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Ist New Work jetzt am Boden der Realität angekommen?

Was für eine Aufregung. Der EuGH hat gestern eine weitreichende Entscheidung getroffen, die die Gemüter teilweise erhitzt hat: Der Arbeitgeber ist zur täglichen Arbeitszeiterfassung verpflichtet. Alle EU-Staaten müssen Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der von jedem Arbeitnehmer geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten.

Verfolgt man die Medien und vor allem die sozialen Netzwerke, so löst diese Entscheidung gerade zweierlei Reaktionen aus.

Anbieter von Zeitwirtschaftssystemen jubilieren und freuen sich heute schon auf stark wachsende Umsatzzahlen und hohe Gewinne. Das ist ähnlich, wie bei der DSGVO – jetzt rennt jeder erst einmal zu den Beratern und lässt sich von denen überteuerte Systeme und Konzepte verkaufen. Denn wir Deutschen wollen ja immer gesetzeskonform arbeiten und folgen jeder Regel, egal wie sinnvoll oder sinnlos sie ist. Das ist der eine Teil, der vielleicht noch nachvollziehbar ist.

Viel größer ist die Aufregung aber in der New Work Bewegung. Denn hier bedeutet diese Entscheidung einen Rückschritt ins 19. Jahrhundert, eine Auferstehung der Stechuhr, ein System kompletter Kontrolle des Mitarbeiters. Doch warum ist gerade hier die Diskussion so ausufernd? Was hat es mit dem New Work eigentlich auf sich?

Das Ganze ist ein Konzept, das die neue Arbeitsweise der heutigen Gesellschaft im digitalen und globalen Zeitalter beschreibt. „Vater“ von New Work ist der austro-amerikanische Sozialphilosoph Frithjof Bergmann, der in seiner Forschung nach dem Freiheitsbegriff davon ausgeht, dass das bisherige Arbeitssystem veraltet ist. Unsere Arbeitswelt ist im Wandel von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft und sieht sich bei dem neuen Wertewandel zu freier Arbeitsweise gezwungen, sich anzupassen. Im Zuge des neuen Zeitalters wandeln sich veraltete klassische Arbeitsstrukturen und weichen neueren flexibleren Vorstellungen.

In der Praxis bedeutet dies für viele Jünger der New Work Bewegung, dass Arbeit Spaß machen soll und in einer angenehmen Atmosphäre an jedem Ort der Welt zu jedem Zeitpunkt erledigt werden kann. Da werden Wohlfühlzonen im Unternehmen eingerichtet – man erinnert sich noch in den Anfangszeiten an den Kicker, mittlerweile müssen es Bars, Nap-Zones etc. sein und es werden Feel Good Manager eingestellt – oder die Digitalisierung ermöglicht es uns, von überall aus zu arbeiten – und so kann ich gerade diesen Beitrag am Flughafen online schreiben und mir die Wartezeit vertreiben, aber natürlich erst, nachdem ich auf Instagram meinen Kaffee gepostet und in facebook meine Reiseroute veröffentlicht habe. Und wenn wir es genau nehmen, sollte ich hier nicht schreiben, sondern aus dem Auto während ich über die Autobahn fahre, alles in einem Video mit dem Handy aufnehmen. Schöne neue Welt!

Was bei dem ganzen Hype um die New Work-Bewegung aber immer vergessen wurde – es profitiert nur ein kleiner Teil der Beschäftigten davon. Denn das Ganze ist eine aufgeblähte Blase von Beratern, Influencern und anderen Wichtigtuern, für die es nichts anderes mehr gibt und wer kein New Work umsetzt, wird in ein paar Jahren nicht mehr existieren. Ich möchte nicht wissen, wieviel Millionen mittlerweile dafür ausgegeben wurden – für Studien, Konferenzen, Beratungen, Umfragen usw.

Doch schauen wir uns doch auch hier einmal die Praxis an. Ein Großteil der Beschäftigten kann mit New Work nichts anfangen, nicht weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht können. Dem Bauarbeiter, der Pflegekraft oder dem Verkäufer im Einzelhandel nutzt das relativ wenig. Wo kann der Krankenpfleger selbst entscheiden, wann er wo die Kranken pflegt oder wie kann die Baustelle an der Austobahn digitalisiert werden – außer bei der Geschwindigkeitskontrolle? Alles noch ungelöste Probleme in der schönen neuen Welt.

Ich durfte vor ein paar Jahren bei der Talkshow „Fakt ist…“ als Gast mitwirken. Thema war die Generation Y als Inbegriff des New Work. Damals propagierte eine selbsternannte junge Kollegin, die sich das „Sprachrohr der Generation Y“ nennt, die neue heile Arbeitswelt. Sie wurde damals schon von einem Schreiner oder Direktor eines Krankenhauses auf den Boden der Tatsachen geführt.

Und wenn wir uns das Thema der Digitalisierung anschauen, so herrscht gerade hier in Deutschland noch eher die Steinzeit als die digitale Zukunft. Egal, ob es um einfache Themen wie die Netzversorgung beim Mobilfunk geht oder eine Regelung zur Digitalisierung von Dokumenten, Überall hinken wir hinter her – aber der Hype ist riesengroß.

Doch was hat das jetzt mit dem neuen Urteil zu tun? Nun, ich glaube, das ist mal wieder der Sturm im Wasserglas. New Work betrifft derzeit nur einen kleinen Teil der Beschäftigten und wir sollten uns vielmehr Gedanken machen, warum es zu diesem Urteil kam. Grund ist doch, dass nach wie vor viele Unternehmen das Thema Arbeitszeit und vor allem den Umgang mit Überstunden nicht so genau nehmen. Wenn nichts aufgezeichnet wird, besteht kein Anspruch und der Mitarbeiter geht leer aus. Da wird oft schon zurecht von Ausbeutung gesprochen, manchmal sicherlich auch zu Recht. Viele unbezahlte Überstunden, unklare Dienstpläne, Streitereien über Zuschläge haben zu dem Urteil geführt. Und damit sind wir von dem Thema New Work und der Selbstbestimmung des Arbeitnehmers ganz weit weg,

Diesen Mitarbeitern hilft auch nicht der Kicker im Büro, sondern manchmal einfach etwas Anerkennung für Ihren tagtäglichen Job!

Thomas Eggert

Schon seit fast 30 Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema Personalarbeit, ob zuerst als Personalmanager oder später als Partner der Personalmanager. Meine Themen sind vor allem das operative Personalmanagement, das neben Themen wie Recruiting oder Personalentwicklung die Basis des Personalgeschäfts absichert. Weiterhin beschäftige ich mich mit der Effizienz in modernen Personalabteilungen. Ich bin heute Geschäftsführer bei der BEGIS GmbH und engagiere mich bei der Aktion gegen Populismus als Gesellschafter der dump beer UG.

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